Gerecht und vernünftig sein.
Wir sind Menschen nur durch die Vernunft, und doch gibt es selten wirklich vernünftige Menschen,1 weil die Eigenliebe gewöhnlich unsere Vernunft trübt und uns in tausenderlei kleine aber gefährliche Ungerechtigkeiten und Schlechtigkeiten hineintreibt, die wie die kleinen Füchse des Hohen Liedes den Weinberg verwüsten (vgl. Hld 2,15). Weil sie so klein sind, achtet man ihrer nicht, wegen ihrer großen Zahl aber richten sie viel Schaden an.
Ist das etwa nicht schlecht und unvernünftig, was ich dir nun sagen werde? Den Nächsten klagen wir wegen des kleinsten Vergehens an, uns selbst aber entschuldigen wir auch bei schweren Verfehlungen; wir wollen recht teuer verkaufen und billig einkaufen; für die anderen soll die strenge Gerechtigkeit gelten, für uns aber Barmherzigkeit und Nachsicht; unsere Worte soll man stets gut aufnehmen, wir dagegen sind empfindlich gegen das kleinste Wort der anderen und regen uns darüber auf.
Wir möchten, daß andere uns ihr Eigentum gegen Bezahlung überlassen. Haben sie nicht mehr Recht, ihr Eigentum zu behalten und wir unser Geld? Wir sind ihnen gram, daß sie sich nicht unseren Wünschen fügen; haben sie nicht mehr Recht, über uns ungehalten zu sein, daß wir sie belästigen?
Neigen wir sehr zu einer Übung, dann achten wir alles andere für gering und kritisieren alles, was nicht nach unserem Geschmack ist. Können wir einen unserer Untergebenen nicht leiden oder haben wir irgendetwas gegen ihn, dann kann er uns nichts recht machen und wir finden alles schlecht, was er tut; wir finden kein Ende, ihn zu tadeln, und nörgeln immer an ihm herum. Haben wir aber an einem sinnliches Gefallen, dann mag er tun was immer, wir wissen es stets zu entschuldigen. Es gibt Eltern, die durchaus tugendhafte Kinder nur deshalb nicht ausstehen können, weil sie einen körperlichen Fehler haben; dagegen sind manchmal ungezogene Kinder die Lieblinge der Eltern nur wegen ihrer körperlichen Reize.
Wir ziehen immer die Reichen den Armen vor, obwohl sie weder besser noch tugendhafter sind; ja wir bevorzugen jene, die besser gekleidet sind. Wir fordern schroff unser Recht, erwarten aber, daß die anderen höflich vorgehen, wenn sie zu ihrem Recht kommen wollen. Wir sind kleinlich auf unseren Rang bedacht, wollen aber, daß die anderen demütig und herablassend seien. Wir klagen gleich über den Nächsten, wollen aber nicht, daß man sich über uns beklage. Was wir für andere tun, scheint uns immer zu viel, was andere für uns tun, zählt in unseren Augen nicht. Mit einem Wort, wir gleichen den Wachteln von Paphlagonien, die zwei Herzen haben: wir haben ein mildes, nachsichtiges und höfliches Herz für uns, gegen die anderen aber ein hartes, strenges und unerbittliches.
Wir haben zweierlei Gewicht: eines, um unsere eigenen Interessen möglichst vorteilhaft, und ein zweites, um jene des Nächsten möglichst unvorteilhaft zu bestimmen. ³Trügerische Lippen reden mit Herz und Herz'', sagt die Heilige Schrift (Ps 12,3); d. h. sie haben zwei Herzen. Zweierlei Gewicht haben, ein schweres beim Kaufen, ein leichtes beim Verkaufen, ist vor Gott ein Greuel (vgl. Dtn 25,13; Spr 20,10).
Sei also gleichmäßig gerecht in all deinem Tun. Versetze dich immer in die Lage deines Mitmenschen und ihn an deine Stelle, dann wirst du richtig urteilen. Wenn du kaufst, stelle dir vor, du seist der Verkäufer, wenn du verkaufst, du seist der Käufer, dann wirst du immer gerecht kaufen und verkaufen. Ungerechtigkeiten dieser Art sind klein, sie verpflichten uns nicht zur Rückgabe, denn wir bestehen ja nur auf strenger Gerechtigkeit, soweit es für uns günstig ist. Wir sind aber doch verpflichtet, uns zu bessern, denn das sind große Fehler gegen die Vernunft und die Liebe. Schließlich täuscht man sich dabei selbst, denn man verliert nichts, wenn man hochherzig, freundlich und zuvorkommend ist.
Prüfe darum oft dein Herz, ob es gegen den Nächsten so gesinnt ist, wie du es von ihm erwartest, wenn du an seiner Stelle wärest, dann handelst du gewiß vernünftig. Trajan wurde einmal von seinen Vertrauten getadelt, daß er als Kaiser nach ihrer Meinung mit jedermann zu vertraulich sei. ³Soll ich nicht als Kaiser gegen meine Untergebenen so sein'', antwortete er, ³wie ich ihn mir wünschte, wenn ich selbst Untergebener wäre?''
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