Wie
stellen wir uns geistliches Wachstum vor?
von
Gert Doornenbal
Am
18. August 2004 verstarb in Nijkerk Gert Doornenbal nach langer
Krankheit
im
Alter von 67 Jahren. Gert war von 1966 bis 1985 Leiter der
niederländischen
Navigatoren.
Dann wurde er Leiter der europäischen Navigatorenarbeit und
wählte
dazu als Wohnsitz Bonn. Schließlich zog er Anfang der 1990er Jahre
nach
Wien,
um von dort aus die Arbeit in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu
koordinieren
und die Missionare vor Ort zu betreuen. Viele von uns haben ihn
und
seine Frau Baukje in ihrer Bonner Zeit kennen gelernt und ins Herz
geschlossen.
Wir teilen die Gefühle, die Paul Tameling im Namen der
niederländischen
Navigatoren in einem Nachruf ausdrückt: „Mit Gert verlieren wir
einen
inspirierenden Bruder, Freund und Leiter. Wir sind Gott dankbar für
das,
was
er uns durch Gert als Person gegeben hat.“
Zur
Erinnerung an Gert erscheint hier noch einmal ein Artikel, der im
September/Oktober
1986 in „Der Navigator“, dem Vorläufer von „bzw.“
abgedruckt
worden war.
„Vor
einiger Zeit durchlebte ich ein geistliches Tief“, erzählte mir
kürzlich jemand.
Die
Ursache dafür lag seiner Meinung nach in seiner falschen Vorstellung
vom
Wachstum
im Glauben.
Der
weiße und der schwarze Hund
„Als
ich vor 15 Jahren in Kontakt mit den Navigatoren kam, sagte man mir,
das
Gute
und das Böse in meinem Leben ließe sich mit zwei Hunden
vergleichen,
einem
weißen und einem schwarzen. Wenn ich mich darum bemühen würde, den
weißen
Hund zu füttern und den schwarzen verhungern zu lassen, hätte das
automatisch
geistliches Wachstum zur Folge. Jahrelang lebte ich mit dieser
Vorstellung,
aber irgendwie klappte es nicht. Was mir versprochen worden war,
traf
nicht ein. Ich wurde immer niedergeschlagener und stellte mir die
Frage:
‚Gibt
es wirklich Wachstum im Glauben?’“
Die
Gedanken dieses Mannes, der mir sein Herz ausgeschüttet hatte, gaben
mir
lange
Zeit zu denken. Was heißt „geistliches Wachstum“? Ist das Bild
von den
zwei
Hunden biblisch oder nicht? Wie stelle ich mir eine geistlich reife
Person vor?
Mir
kamen viele Fragen, und ich nahm mir vor, über einige bekannte Verse
neu
nachzudenken.
Nicht
unbedingt falsch
Was
das Beispiel von den beiden Hunden angeht, so glaube ich nicht, dass
dieser
Vergleich
unbedingt falsch ist. In der Tat heißt es in Galater 6,7-9: „Irrt
euch
nicht!
Gott lässt sich nicht verspotten. Denn was der Mensch sät, das wird
er
ernten.
Wer auf den selbstsüchtigen Willen sät, der wird von ihm das
Verderben
ernten;
wer aber auf den Geist Gottes sät, der wird von ihm das ewige Leben
ernten.
Darum lasst uns nicht müde werden, das Gute zu tun, denn zur rechten
Zeit
werden wir ernten, wenn wir nicht ablassen.“
Aber
sehr begrenzt
Es
fiel mir jedoch auf, dass das Bild von den beiden Hunden sehr
begrenzt ist. Es
gibt
so viele Bereiche unseres Lebens, in denen wir im geistlichen Kampf
stehen,
dass
es besser wäre, von einer ganzen Meute von weißen und schwarzen
Hunden
zu
sprechen. Das macht die Situation umso schwieriger.
Wenn
wir beispielweise den weißen Hund namens „Geben/Teilen“ füttern
und
versuchen,
den schwarzen Hund namens „Egoismus“ vom Futternapf abzuhalten,
schleicht
sich plötzlich der schwarze Hund „Stolz“ heran und nimmt sich
einen
Teil
des Futters.
Wir
sind wieder einmal tief enttäuscht von uns selbst. Auch Paulus rief
einmal
voller
Verzweiflung: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von
diesem
todverfallenen
Leib?“ (Römer 7,24)
Durch
veränderte Umstände können auch neue schwarze Hunde in die Meute
gelangen.
So sind wir davon überzeugt, dass unser Selbstwertgefühl nicht von
der
Position abhängt, die wir in der Gesellschaft innehaben. Dann werden
wir
plötzlich
arbeitslos. Wir sind auf Arbeitslosenunterstützung angewiesen.
Allmählich
steigt das Gefühl in uns auf: „Niemand braucht mich. Niemand will
mich.“
In unserem Leben tauchen schwarze Hunde auf, von deren Existenz wir
bis
dahin nicht einmal etwas ahnten.
Geistliche
Riesen?
Wie
stellen wir uns geistliches Wachstum vor? Welches Bild haben wir von
einem
geistlich
reifen Mann, einer geistlich reifen Frau, von „Bäumen der
Gerechtigkeit“,
wie
sie in Jesaja 61,3 genannt werden?
Wir
neigen dazu, sie uns als stark und unabhängig vorzustellen, als
Menschen,
die
das Stadium hinter sich gebracht haben, in dem man noch ausrutschte,
auf
die
Nase fiel und wieder von vorne beginnen musste. Aufgrund dieser
Vorstellung
kann
es sogar sein, dass wir die Begegnung mit solchen „geistlichen
Riesen“
fürchten,
die sich kaum noch an die Kämpfe erinnern, die Leute wie wir immer
noch
durchzustehen haben. Unser Bild von ihnen lässt uns in ihrer
Gegenwart vor
Ehrfurcht
erstarren.
Die
Bibel lehrt aber etwas völlig anderes über geistliches Wachstum.
Ein Mensch,
der
geistlich wächst, wird mehr und mehr vom Geist Christi erfüllt, dem
Geist der
Liebe,
der Barmherzigkeit, der Geduld, der wahren Demut. Ein
Charakteristikum
eines
so genannten „geistlichen Riesen“ ist deshalb: Er versteht, womit
wir
kämpfen.
Am
Ende von Hebräer 4 heißt es von Jesus, dass er ein Hoherpriester
ist, der
Mitleid
mit unseren Schwächen hat, weil er genauso versucht worden ist wie
wir,
wenn
auch ohne Sünde. Er kennt jede Art des geistlichen Kampfes. Er
versteht,
was
wir durchmachen. Auch wenn er stets Sieger blieb, war der Kampf für
ihn
nicht
weniger hart.
Geistliches
Wachstum ist also nicht dadurch gekennzeichnet, dass der Kampf
abnimmt.
Im Gegenteil, es ist ein Zeichen von geistlicher Reife anzuerkennen,
dass
der Kampf nie aufhört, und zu wissen, an wen wir uns wenden können,
wenn
wir Hilfe brauchen.
Natürliches
Wachstum und geistliches Wachstum
Warum
haben wir oft eine falsche Vorstellung von geistlichem Wachstum? Ich
glaube,
weil es einen entscheidenden Unterschied zwischen natürlichem und
geistlichem
Wachstum gibt.
In
unserem natürlichen Leben ist es so, dass wir zuerst als Baby in
einem
Zustand
totaler Hilflosigkeit und Abhängigkeit sind, und dann allmählich zu
einem
Zustand
der Reife heranwachsen; also zu einem Zustand, in dem wir selbständig
geworden
sind.
Mit
dem geistlichen Wachstum verhält es sich anders. Typisch für dieses
Wachstum
ist, dass wir immer abhängiger werden. Da der Kampf so vielschichtig
und
komplex ist, geht es letztlich darum, dass wir unsere Sicherheit in
der
Abhängigkeit
finden: in der vollkommenen Abhängigkeit von Gott und seinem
Wort.
Schwäche
und Stärke
Um
uns zu dieser vollkommenen Abhängigkeit zu bringen und zum Vertrauen
ganz
auf ihn, lässt Gott uns Nöte und Schwierigkeiten durchleben. Er
weiß, wie er
Schwächen
und Stärken in unserem Leben mischen muss. Er lässt nicht das eine
auf
das andere folgen, so dass wir etwa sagen könnten: Früher fühlte
ich mich
schwach,
jetzt bin ich stark. Nein, Gott fügt es so, dass Schwachheit und
Stärke
gleichzeitig
Teil unseres Lebens sind.
In
2. Korinther 12,10 sagt Paulus: „Denn wenn ich schwach bin, bin ich
stark.“
Auf
den ersten Blick erscheint diese Aussage paradox. Wenn ich schwach
bin, bin
ich
nicht stark, sondern abhängig und verletzlich. Vers 9 liefert die
Erklärung:
„Lass
dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen
mächtig.“
In
Zeiten unserer Schwachheit sehen wir besonders deutlich die
Notwendigkeit
der
Abhängigkeit von Gott. Das macht uns stark. Schwachheiten,
schwierige
Situationen,
Enttäuschungen können unseren Glauben stärken, wenn wir geistlich
auf
sie reagieren. Je deutlicher wir unsere Schwäche erkennen, desto
mehr
Anlass
haben wir, im Glauben zu Gott zu gehen und ihm um Hilfe zu bitten.
Aktive
Abhängigkeit
Die
Ausstrahlung von geistlich reifen Menschen besteht in ihrer Demut.
Wenn sie
sich
durch etwas auszeichnen, dann durch ihr tiefes Bewusstsein, dass sie
wegen
ihrer
Hilflosigkeit und Schwäche in allem auf Gott angewiesen sind.
Interessanterweise
macht sie dieses Bewusstsein aber nicht passiv. Sie sind
aktiv,
aber nur als Ergebnis völliger Abhängigkeit von der Quelle der
geistlichen
Kraft.
Im
Römer 8,13 werden wir aufgefordert, etwas durch den Geist Gottes zu
tun:
„Wenn
ihr aber durch den Geist das selbstsüchtige Handeln tötet, werdet
ihr
leben.“
Bei diesem aktiven Handeln aus der völligen Abhängigkeit heraus die
richtige
Balance zu finden – darin liegt das Geheimnis des geistlichen
Wachstums.