Samstag, 3. Mai 2008

Über Sünde

Diese Artikel sind von Haso.
Ich habe sie alle zusammengefasst, daß man sie am Stück lesen kann.
Diese Artikel sind bei "Theologische Position" eingebunden, weil ich glaube, daß das Sündenverständnis zu den Fundamenten des Glaubens gehört.
Dieses Verständnis über Sünde ist ein vorläufiges.
Wie in jeder Beziehung können sich Meinungen ändern. (Meine Meinung kann sich ändern, die von Gott nicht*g*)
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Was meinen wir, wenn wir sagen, etwas sei Sünde (1)

“Ist … Sünde?” Kaum eine Frage ist mir so oft begegnet wie diese. Christen und Nichtchristen stellten sie. Manchmal wurde sie gestellt, um Rechtgläubigkeit zu testen. (”Nennst du Sünde noch Sünde?”) Manchmal wurde sie gestellt, weil jemand anders die Antwort hören und zurechtgewiesen werden sollte. (Ich erinnere mich an eine Reise in ein osteuropäisches Land, wo die Männer mich nach der Predigt öffentlich fragten, welches Outfit den Frauen eine Sünde sei.) Manchmal wurde sie gestellt, weil einer nicht den Mut hatte, auf sein eigenes Gewissen hin zu handeln und von mir eine Unbedenklichkeitsbescheinigung begehrte. Manchmal wurde sie berechtigt gestellt.

“Ist … Sünde?” An einige Fassungen dieser Frage erinnere ich mich wie an Relikte aus grauer Vorzeit. Es ging um Genussmittel (Alkohol und Nikotin), Freizeitbeschäftigungen (Tanz und Stadionbesuch) oder Kulturgüter (Beatmusik und Fernseher). Meist trat die Frage in Verbindung mit ihrer Zwillingsschwester auf: “Ist … weltlich?” So formuliert, ergab sich ein noch viel weiteres Anwendungsgebiet, wenn denn in diesem Zusammenhang von “Weite” geredet werden kann.

Von solchen Fragestellungen habe ich mich vor vielen Jahren verabschiedet und gedenke die Diskussion darüber nicht wieder aufzunehmen. Doch stelle ich fest, dass andernorts diese Fragen keineswegs ad acta gelegt sind. Erst neulich las ich bei THEOOZE eine Ausführung zu der Frage, ob der Klerus in die Kneipe gehöre (Brian Hoyer: WHY PASTORS AND PUBS DO MIX). Es spricht für sich, dass die Begründung nicht endete, bevor ich mein Display dreimal gescrollt hatte. (Ich gebe zu, dass es mir eine gewisse Freude bereitet, bei einem amerikanischen Kollegen eine Weinflasche zu entdecken. Southern Baptist und Southern Comfort wohnen selten einträchtig beeinander.)

Mit einem anderen Subjekt ist die genannte Frage ein Dauerbrenner (”Ist vorehelicher Sex Sünde?”). Mit einem weiteren Subjekt ist sie hochaktuell (”Ist Homosexualität Sünde?”). Im Spannungsfeld zwischen der Furcht, nicht bibeltreu zu sein, und der Furcht, Menschen zu verletzen, wird diese Frage diskutiert. (Ich verweise auf die inzwischen klassische McLaren-Debatte mit dem Aufschlag von Brian, dem Volley von Jeff, dem Netzball von Mark und dem Return von Brian.)

Ich bin inzwischen zögerlich geworden, auf solche Varianten dieser Frage zu antworten. Das liegt nicht daran, dass ich keine Antwort hätte. Es liegt auch nicht daran, dass ich mich nicht traue, meine Antwort zu vertreten. Es liegt vielmehr daran, dass unterschiedliche Leute mit dem Wort “Sünde” höchst unterschiedliche Assoziationen verbinden. Es “macht wenig Sinn” - um mich wieder eines Anglizismus schuldig zu machen -, darüber zu reden, ob etwas Sünde ist, solange wir nicht dasselbe meinen, wenn wir von Sünde reden.

Fortsetzung folgt.

Was meinen wir, wenn wir sagen, etwas sei Sünde (2)

Fortsetzung von Teil 1

In den Augen der meisten Menschen bedeutet Sünde etwas “moralisch Verwerfliches”. Dabei ist die Moral selbst etwas Fragwürdiges.

“Der Unterschied zwischen Moral und Ethik besteht darin, dass die Moral eine Ansammlung von formellen oder informellen Regeln des menschlichen Verhaltens darstellt … und daß die Ethik ein Ableitungssystem ist, das es gestattet, aus wenigen Grundsätzen menschliche Verhaltenregeln abzuleiten.” (Nach Wolfgang Deppert)

Moral sieht auf das Verhalten, nicht auf das Herz. “Das tut man nicht!”, sagt sie. Früher sagte sie noch: “Was sollen die Nachbarn denken?”, aber seit die Nachbarn sich nichts mehr denken, ist ihr dieser Einwand abhanden gekommen. Manchmal sagt sie: “Wenn das jeder täte?!”, und bringt damit Kants Kategorischen Imperativ in eine populäre Form. Es wird wohl so sein, dass Moral für die Gesellschaft nützlich oder nötig ist. Für das Verständnis von “Sünde” ist sie mehr als hinderlich.

Wenn ich also bei dem Begriff “Sünde” nicht an “moralische Verwerflichkeit” denke, woran dann? Zunächst einmal hat Sünde eine positive Seite: In jeder Sünde steckt eine Chance oder ein Potential. Mache ich mit dieser Aussage meine Leser stutzig und mich selbst verdächtig? Ich erkläre.

Viele alte Philosophen und Theologen hielten das Böse für etwas Substanzloses, ohne eigene Existenz. So wie Dunkelheit nur die Abwesenheit von Licht ist, so ist das Böse nur die Abwesenheit des Guten - ein Privativum. Damit wollte man den Dualismus vermeiden, jene Weltanschauung, bei der das Gute und das Böse wie ebenbürtige Gegner aufeinandertreffen.

Wie berechtigt diese Abwehr des Dualismus ist, erkennen wir, wenn wir den offenen oder verborgenen Dualismus in der Gemeinde aufspüren. Man lasse nur einmal die Leute den jeweiligen Gegensatz zu vorgegebenen Begriffen nennen: “Licht” - “Finsternis”. “Himmel” - “Hölle”. “Weiß - Schwarz”. “Leben” - “Tod”. “Gott” - …? In der Regel lautet die spontane Antwort: “Teufel”. Aber es gibt keine negative Entsprechung zu Gott. Der, zu dem der Teufel im Gegensatz steht, heißt “Michael” oder “Gabriel”. Ein “gefallener Engel” ist das Gegenteil zu einem “heiligen Engel”, nicht zu Gott. Man steigt durch Rebellion nicht in Gottes Liga auf.

Solcher Dualismus ist in der Tat zu überwinden. Aber das taugliche Mittel hierzu ist nicht die Reduzierung des Bösen auf ein Privativum. Zu real sind die Werke des Bösen im Leben von Menschen, die seine Opfer werden, zu hart ist bisweilen der Kampf gegen die zerstörerische Kräfte des Bösen, um in ihm nur ein Nichtvorhandensein des Guten zu sehen. Solch eine Sicht des Bösen fiele mir genauso schwer, wie in einer Atombombenexplosion lediglich die Abwesenheit einer atomwaffenfreien Zone zu erkennen.

Hilfreicher ist eine andere Erklärung des Bösen, der Martin Luther die griffige Form gab: “Der Teufel ist der Affe Gottes.” Das Böse ist eine verfälschte Nachäffung des Guten. Weil der Böse nämlich nur eine gefallener Engel ist, kann er nichts erschaffen. Er kann nur etwas Geschaffenes nehmen und verkehren, in eine falsche Richtung lenken. Zu Recht erklären wir deshalb “Sünde” als “Zielverfehlung”. Sünde ist etwas ursprünglich Gutes, das vom eigentlichen Ziel abgelenkt wurde und sich jetzt auf einer Bahn befindet, die zu Leid und Zerstörung führt.

Das gilt beispielsweise für den Zorn. “Des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist”, lesen wir in der Bibel. Wer sieht, wieviel Leid durch Zorn verursacht wird, wieviel unheilbarer Schaden durch eine kurze Aufwallung angerichtet wird, kann nur zustimmen. Aber Zorn ist eigentlich etwas Gutes. Bei Gott bedeutet er, dass Gott nicht indifferent gegenüber Ungerechtigkeit ist. Wenn der Starke den Schwachen bedrängt, ist das für Gott nicht belanglos - kein Offizialdelikt, dass er von Amts wegen halbherzig verfolgt, wenn überhaupt. In ihm regt sich leidenschaftliche Solidarität mit dem, der sonst keinen Helfer hat. Gottes Zorn ist die Garantie dafür, dass dieses Universum am Ende in einem Zustand der Gerechtigkeit enden wird - ein mir sehr sympathischer Zug Gottes. Und dass Gott “langsam zum Zorn” ist, ändert nichts daran, dass er fest entschlossen ist, “einen neuen Himmel und eine neue Erde” zu schaffen, “in denen Gerechtigkeit wohnt”.

“Heiliger Zorn” ist etwas Gutes. Das Böse am menschlichen Zorn ist nicht, dass der Zorn noch vorhanden ist, sondern dass er die Heiligkeit verloren hat. Auch wenn Jähzorn und Rachsucht es kaum noch erkennen lassen, die Quelle solcher Ausbrüche ist eine gute Regung, deren Strom das falsche Bett gewählt hat. Aus einer Regung, mit der wir die Interessen des Schwachen vertreten sollten, ist eine geworden, mit der wir unseren Egoismus aufrüsten.

Wenn es stimmt, dass das Böse die Verkehrung des Guten ist, dann ist die Sünde letztlich die gute Tat - die nur noch nicht erlöst ist. Mir ist bewusst, dass angesichts der Ungeheuerlichkeit mancher Verbrechen diese Aussage bedenklich klingt. Dennoch mache ich sie. Und mehr noch - oft weist die Sünde eines Menschen bereits auf seine Bestimmung hin. Der Bereich, in dem ein Mensch am meisten oder stärksten sündigt (wenn man überhaupt vergleichend von Sünden sprechen kann), ist oft der Bereich, in dem seine wahre Berufung liegt - die nur noch nicht erlöst ist.

Der Paulus, der rasend und mordend die Gemeinde zerstörte, war ein noch unerlöster Missionar. An seinen Taten war bereits die göttliche Bestimmung erkennbar. Später schrieb er, dass Gott ihn schon “von Mutterleib an” berufen hatte, das Evangelium mit Hingabe und Leidenschaft gegen allen Widerstand auszubreiten. Dieses göttliche Potential in seinem Leben machte ihn zunächst - unerlöst - zum Verfolger. Wozu es ihn später - erlöst - machte, ist bekannt.

Dieser Zusammenhang lässt in jeder “Sünde” eine Chance oder ein Potential erkennen. So wie Gott in all den Jahren, in denen Paulus gegen die Gemeinde wütete, sagte: “Da geht mein auserwähltes Werkzeug”, so will ich bei jedem Menschen, der sündigt, sagen: “Da geht ein Berufener Gottes.” Denn hinter seinen “bösen Werken” liegen schon die “guten Werke” bereit, die Gott “zuvor bereitet” und zu denen er ihn “geschaffen” hat (Epheser 2,10).

Fortsetzung folgt.




Was meinen wir, wenn wir sagen, etwas sei Sünde 3

Nach längerer Pause folgt die Fortsetzung von Teil 2 , in dem ich darüber geschrieben habe, dass Sünde die Umkehrung oder die Richtungsänderung von etwas ursprünglich Gutem ist. Heute geht es darum, was eigentlich das Schlimme an Sünde ist.

Alles ist erlaubt, aber nicht alles ist nützlich; alles ist erlaubt, aber nicht alles erbaut. (1.Korinther 10,23)

Das Schlimme an Sünde ist nicht, dass man etwas tut, was verboten ist. Das Schlimme an Sünde ist, dass sie zerstörerisch ist. Sie lässt das Gute, das Gott uns und anderen zugedacht hat, nicht zustande kommen. Sie ist nicht nützlich, baut nicht auf. Stattdessen reißt sie nieder, schadet und verletzt.

In diesen Tagen wird viel darüber geredet, ob etwas “biblisch” ist oder ob Christen “bibeltreu” sind. Mein Ziel ist nicht, “bibeltreu” zu sein. Ich liebe Gott, und ich liebe Menschen. Ich möchte Gott nicht verletzen, sondern ihm Freude machen und bei der Verwirklichung der Ziele helfen, die ihm am Herzen liegen. Ich möchte anderen Menschen nicht schaden, sondern einen “nützlichen” und “aufbauenden” Einfluss ausüben.

Wenn ich also von Sünde rede, meine ich Verhaltensweisen, die von Verletzungen begleitet sind - und zwar in der Regel sowohl von erlittenen als auch von begangenen Verletzungen. Meist fügen die Menschen anderen das meiste Leid zu, denen früher viel Leid zugefügt wurde.

Als vor einigen Jahren die sexuellen Verfehlungen von Bill Clinton publik wurden, gab es in der frommen Öffentlichkeit einen Aufschrei der Empörung. Auch ich würde Sünde nennen, was Bill Clinton tat. Er hat seine Frau, seine Familie und viele andere verletzt. Er hat auch Monica Lewinsky und sich selbst verletzt - und sogar Gott. Aber ich konnte und kann mich dem frommen Aufschrei der Empörung nicht anschließen.

Hier sind einige Details aus Clintons Biographie: Sein Vater - ein Vertreter mit zahlreichen Affären, der einige Frauen zuerst geschwängert und dann verlassen hatte - starb drei Monate vor Bills Geburt bei einem Autounfall. Als Bill ein Jahr alt war, ließ seine Mutter ihn wegen ihrer Ausbildung bei den Großeltern zurück. Spiel- und trunksüchtig nahm sie ihn einige Zeit später wieder zu sich, und er wurde Zeuge ihrer Männergeschichten (insgesamt fünf Ehen). Als er vier Jahre alt war, kam ein Stiefvater ins Haus, der ebenfalls Spieler und Trinker war und ihm gegenüber gewalttätig wurde. In dem Ort, in dem die Familie lebte, waren Bordelle, Spielcasinos und Kirchen gut besucht, zum Teil von denselben Leuten.

Zu Hause wurde getrunken und gestritten, aber dabei nach außen der Anschein einer intakten gutbürgerlichen Familie aufrecht erhalten. Der kleine Bill begann, zu schweigen, zu beschönigen, zu lügen. Unehrlichkeit sollte den Mythos der heilen Familie bewahren. Später schloss er sich einer Gemeinde an und kam zum Glauben, aber er schlug immer wieder über die Stränge und versuchte, sich herauszumogeln.

Sünde ist schlimm, weil sie der Weg ist, auf dem wir erlittene Verletzungen an andere weitergeben. (Man könnte einwenden, bei den ersten Menschen sei es anders gewesen. Aber war nicht die Lüge und Verführung durch die Schlange eine extreme Verletzung?)

Mit diesen Ausführungen ist Sünde nicht ent-schuldigt. Sie enthält immer auch einen Anteil schuld-hafter Verantwortlichkeit. Aber der beschriebene Zusammenhang zwischen erlittener und ausgeübter Schuld hat zur Folge, dass Gottes stärkste Reaktion auf Sünde nicht Zorn, sondern Barmherzigkeit ist. Jetzt ist er erst recht für uns, denn jetzt brauchen wir ihn mehr als je.

Jesus kam nicht nur auf die Erde, um zu sterben. Er kam auch auf die Erde, um hier zu leben und uns in menschlicher Gestalt zu zeigen, wer und wie Gott ist. “Wer mich sieht, sieht den Vater”, sagte er (Johannes 14,9). Wir sehen also den Vater, wenn wir sehen, wie Jesus einen Betrüger in seinen engsten Kreis berief und anschließend ein Fest mit “Sündern” feierte. Wir sehen den Vater, wenn wir sehen, wie diese Menschen gern seine Nähe aufsuchten (Markus 2,14-17).

Wenn wir an diesen Gott glauben, wenn wir diesem Jesus nachfolgen, kann es für uns nur einen einzigen legitimen Grund geben, gegen Sünde das Wort zu erheben - der Wunsch, dass andere Gutes erleben und ihnen Leid erspart bleibt. Wir sind nicht gegen etwas, sondern für jemand.

Dem würden die meisten Christen zustimmen. “Gott hasst die Sünde, aber er liebt die Sünder”, ist ein vertrauter Slogan. Dieser Slogan stimmt. Aber wer ihn im Munde führt, sollte nicht zu schnell sicher sein, dass das auch auf ihn zutrifft. Hufi hat kürzlich auf einen Beitrag “Warum der_mob uns Fromme nicht mag ” hingewiesen. Zitat:

Fromm: Ja weißt du, ich mache das wie Gott: Ich liebe den Sünder, aber hasse die Sünde!
der_mob: Ach so, verstehe. Und du bist dir sicher, dass du die scharfe Trennlinie zwischen meinem Verhalten und meinem Wesen hinbekommst, und nicht vielleicht durcheinander kommst und plötzich den Sünder hasst, statt die Sünde?

Hier ist der Sicherheitstest: Wenn man Menschen ein Freund ist, ist man gern mit ihnen zusammen. Und sie kommen ihrerseits gern zu einem. Bei Jesus war - wie wir gesehen haben - beides der Fall. Wenn also ein Christ “den Sünder liebt, aber die Sünde hasst”, dann wird er gern mit “Sündern” zusammen sein und ihre Gemeinschaft suchen, und zumindest einige von ihnen werden sich in seiner Gegenwart wohl fühlen und gern bei ihm sein. Alles klar?

Man hat Brian McLaren heftige Vorwürfe gemacht, als er vorschlug, die Gemeinde solle ein fünfjähriges Moratorium (eine Zeit des Schweigens) zum Thema Homosexualität einlegen. Ich teile seinen Vorschlag nicht. Aber ich verstehe sein pastorales Anliegen. Und ich würde stattdessen ein anderes Moratorium vorschlagen.

Gemeinden und Christen, die nach den eben beschriebenen Kriterien nicht nachweislich “Freunde von Sündern” sind, sollten solange den Mund über Sünde halten, bis sie selbst verändert und solche Freunde geworden sind.

Wer indessen sich die eigene Rechtgläubigkeit bescheinigt, weil er “die Dinge noch beim Namen nennt”; wer immer nur in Sorge ist, dass wir nicht “entschieden genug bibeltreue Positionen beziehen” - bei dem habe ich große Zweifel, ob er und ich dasselbe meinen, wenn wir sagen, etwas sei Sünde.

P.S.: Auch wenn mein Motiv die Liebe ist und nicht die Bibeltreue, vermute ich, dass ich ein “bibeltreuer” Mensch bin. An manchen Stellen weiß ich selbst, was verletzend ist und was nicht. Aber nicht immer kann ich mich darauf verlassen. Mein Herz ist ebenso trügerisch wie das anderer Menschen. Der einzige, der wirklich genau weiß, was auf Dauer schadet und was nützt, was verletzt und was heilsam ist, ist Gott. Weil ich ihm mehr vertraue als mir selbst, halte ich mich an sein Wort, so gut ich´s verstehe. Als die ersten Menschen in einer Situation waren, in der alles dafür sprach, von einem gewissen Baum zu essen (die Worte der klugen Schlange, der eigene Augenschein, ein sich gut anfühlendes Verlangen, positive Erwartungen; siehe Genesis 3,4-6), hätte ein einziger Gedanke die Menschheit vor unzähligen Verletzungen bewahren können: “Gott weiß es besser!”

Fortsetzung folgt


2006

Was meinen wir, wenn wir sagen, etwas sei Sünde 4

Teil 4 meiner Reihe (hier Teil 1, 2 und 3 ) habe ich etwas vor mir hergeschoben. Ich finde es nicht leicht, meine heutigen Gedanken verständlich zu machen. Nun gebe ich mir endlich den Ruck, den ich brauche, und schreibe.

Wie erkennt man Sünde?

“Sünde” ist nicht bloß eine juristische, moralische, ethische, theologische oder rationale Kategorie. Deshalb weiß, wer eine “zutreffende” Definition von “Sünde” hat und “richtig” identifizieren kann, was an bestimmten Haltungen und Verhaltensweisen “sündig” ist, noch lange nicht, worum es wirklich geht. Sünde ist eine “existentielle” und eine “geistliche” Kategorie, was bedeutet, dass man Sünde letztlich nur mit dem “Herzen” und durch “Offenbarung” erkennen kann. (Die zahlreichen Anführungszeichen signalisieren, dass jeder dieser Begriffe schon unterschiedlich verstanden werden kann, was meine heutige Aufgabe nicht erleichtert.)

Ein Beispiel kann verdeutlichen, was ich meine. In der Regel glauben Christen, dass Gott uns Menschen liebt. Zumindest glauben sie es mit dem Kopf. Aber viele haben festgestellt, wie weit der Weg vom Kopf zum Herzen ist. Zu wissen, dass Gott uns liebt, und eine Definition von Liebe zu haben, bedeutet noch lange nicht, dass unser Herz wirklich von der Liebe Gottes berührt ist. Immer wieder habe ich beobachtet (bei mir selbst und bei vielen anderen), wie sich das Leben von Menschen verändert hat, wenn die Liebe Gottes zu einer Erfahrung wurde. Auf einmal merken sie, dass sie Gott(es Liebe) nur vom Hörensagen kannten, aber nun hat ihr Herz ihn (und seine Liebe) gesehen (nach Hiob 42,5). Vor solchen Erfahrungen weiß man nicht wirklich, was Gottes Liebe ist, und es kann einem auch keiner erklären.

Ähnlich ist es mit Sünde. Man kann darüber reden und schreiben, soviel man will, doch eigentlich kann kein Mensch verstehen, was Sünde wirklich ist, solange er nicht eine Gottesbegegnung oder Gottesberührung (also eine “Offenbarung”) hat, in der ihm die Sünde gezeigt wurde. Paulus drückt das so aus:

Denn die Betrübnis nach Gottes Sinn bewirkt eine nie zu bereuende Buße zum Heil; die Betrübnis der Welt aber bewirkt den Tod. (2. Korinther 7,10)

Es gibt viele “tödliche” Erfahrung mit “Sünde”:

  • bedrückende Schuldgefühle;

  • erfolglose Besserungsversuche und gute Vorsätze;

  • moralische Verurteilung und Ausgrenzung.

Wenn diese und änliche Haltungen bei denen, die “gesündigt” haben, oder denen, die ihnen ihre “Sünde” vorhalten, entstehen, ist “Betrübnis nach Gottes Sinn” und damit echtes Verständnis von Sünde sehr weit entfernt.

Wenn hingegen Gott uns unsere Sünde “zeigt”, entsteht eine andere Art von Traurigkeit. Plötzlich ist uns sonnenklar, was an unserem Verhalten das eigentlich “Hässliche” ist. Wir sehnen uns danach, anders zu sein. Und selbst wenn solch eine Erfahrung vorübergehend bitter ist, wird sie für uns zu einem Schatz, den wir nicht mehr missen möchten - sie “bewirkt eine nie zu bereuende Umkehr zum Heil”.

Zwei persönliche Erfahrungen. Als ich Christ wurde, lagen Jahre hinter mir, die man auch nach toleranten Gesichtspunkten als recht “sündig” bezeichnen würde. Ich hatte Menschen nachhaltig und teilweise unwiderruflich verletzt und geschädigt. Vom Kopf her wusste ich, wie schlimm mein Verhalten gewesen war. Aber für mein Empfinden waren es “gefühlte Bagatelldelikte”.

Ich war damals zu traumatisiert, um mich der Tragweite meiner Vergangenheit stellen zu können. Und Gott verschonte mich damit - bis er einige Monate nach meiner Bekehrung anfing, mich mit ihr zu konfrontieren. Dazu wählte er eine Situation, in der meine Mutter kräftemäßig am Ende war. Plötzlich “erkannte” ich, wie sehr ich sie in all den Jahren belastet hatte. Von einem Moment zum anderen wuchs der Maulwurfhügel meiner Schuld zu einem riesigen Berg.

Bemerkenswerterweise war diese Erfahrung frei von aller Verdammnis und Härte. Ich fühlte mich gleichzeitig von Gott geliebt und wusste, dass mir alles vergeben war. Aber ich wusste auf einmal auch, wie gravierend das war, was mir vergeben worden war. Ich war auf eine Weise zutiefst erschüttert, für die ich noch heute dankbar bin. Dieser Tag hat mich verändert und etwas in mein Leben gebracht, dass ich nicht wieder hergeben möchte.

Jahre später war ich junger Pastor. Manchmal, wenn ich mit gleichaltrigen Freunden zusammen war, zogen wir über andere Leute her. Sachlich war manche Kritik vielleicht berechtigt. Aber es war eine Dosis Verachtung und Spott dabei, wenn wir unsere Sprüche machten. God was not amused.

Eines Morgens “erwischte” der Heilige Geist mich in meinem Büro. Plötzlich standen meine Bemerkungen vor mir, und ich wurde von einer großen Traurigkeit erfüllt. Eine halbe Stunde heulte ich Rotz und Wasser über meine Worte. Auch diese Erfahrung ist für mich etwas Kostbares. Sie hat mich weiter verändert. Es gibt eine feine Grenze zwischen Kritik und Widerstand (die oft berechtigt und manchmal geboten sind) und sündhafter Verurteilung oder Verachtung. Manchmal überschreite ich diese Grenze noch, aber generell spüre ich, dass ich auch die Menschen respektiere und achte, gegen die ich Position beziehe(n muss).

Von Herz zu Herz

Wenn also Sünde nur mit dem Herzen richtig erkannt werden kann, dann ist eine notwendige Voraussetzung, über Sünde zu sprechen, dass man das Herz des anderen erreicht.

  • Es ist (sofern man es nicht zum Schutz Schwächerer tun muss) meist falsch, jemanden auf Sünde anzusprechen, dessen Herz man noch nicht gewonnen hat - der noch nicht eine “Erfahrung” von Gottes Liebe und von unserer Liebe gemacht hat.

  • Wir selbst brauchen ein reines Herz, d.h. wir müssen sicher sein, dass wir wirklich um des anderen willen handeln. (Wer ein abstraktes Heiligkeitsprinzip aufrechterhalten will, wer sich über das Verhalten eines anderen aufregt und ihn “auf Vordermann” bringen will, wer aggressive oder moralische Untertöne hat, wer religiös drauf ist, wer nach “mehr Buße” schreit, ist höchst ungeeignet, jemanden auf Sünde anzusprechen.)

  • Es muss in einem Kontext geschehen, indem das Herz des anderen berührt werden kann.

Paulus ist ein gutes Beispiel für den letzten Punkt. Oft wird er in frommen Kreisen als der kompromisslose Vertreter von Wahrheit und Heiligkeit angesehen. Man weist darauf hin, wie er die Galater zusammengeschissen hat, und plädiert für ähnliche Klarheit und Eindeutigkeit. Wer Paulus so einseitig interpretiert (hier bin auch ich für Ausgewogenheit), hat ihn nicht verstanden. An die Korinther schreibt Paulus:

Habe ich nun, indem ich mir dieses vornahm, etwa leichtfertig gehandelt? Oder was ich mir vornehme, nehme ich mir das nach dem Fleisch vor, damit bei mir das Ja-ja und das Nein-nein gleichzeitig wären? (2. Korinther 1,17)

Paulus hatte eine Reise nach Korinth angekündigt, dann aber nicht unternommen. Man warf ihm Wortbrüchigkeit vor. Was war der Grund für seine Reisestornierung?

Ich aber rufe Gott zum Zeugen an gegen meine Seele, daß ich, um euch zu schonen, noch nicht nach Korinth gekommen bin. (2. Korinther 1,23)

In Korinth liefen einige Dinge nicht rund. Man könnte das Sünde nennen. Paulus wusste, diese Dinge würden auf die Tagesordnung kommen, wenn er nach Korinth käme. Und er wusste, dass die Situation der Korinther und ihre Beziehung zu ihm gerade so war, dass er nicht ihr Herz erreichen (und sie zu der göttlichen Traurigkeit, von der eben die Rede war) bringen könnte, wenn er jetzt zu ihnen ginge.

Paulus war also eher bereit, sein Wort nicht zu halten und seine eigene Integrität in Zweifel ziehen zu lassen, als Leute in einer Situation auf Sünde anzusprechen, die nicht produktiv sein konnte. Er ließ lieber einen Schatten auf sich fallen, als einen auf andere zu werfen.

Mich bedrückt Sünde mehr, als der Leser meiner heiteren Blogeinträge vermuten mag. Ich meine zu sehen, wieviel Verletzungen sie anrichtet, wieviel Gutes sie verhindert. Und ich meine immer wieder zu sehen, dass es Bereiche von Sünde gibt, die ich Leuten nicht zeigen kann. Entweder würden sie gar nichts dabei finden; oder sie würden in die “Traurigkeit der Welt” verfallen, von der auch schon die Rede war, und sich selbst verurteilen; oder sie würden sich von mir verurteilt fühlen. Also halte ich die Klappe und liebe sie.

Aber ich sehne mich danach, dass der Heilige Geist in einer ganz neuen Tiefenwirkung als der “Überführende” tätig wird; dass Leute so tief erschüttert werden, wie noch nie zuvor in ihrem Leben; und dass sie sich gleichzeitig so tief geliebt fühlen, wie noch nie in ihrem Leben. Erst dann kann man eigentlich wissen, worüber man redet, wenn man sagt, etwas sei Sünde.

Zur Vertiefung: Hiob 42,1-6; Jesaja 6,1-8; Lukas 5,1-11; Lukas 22,61-62; Apostelgeschichte 2,37

How (Not) to Speak of Sin

Wie sprach Jesus (nicht) über Sünde? Was wir bei ihm nicht finden, ist der klassische evangelistische Ansatz: Erst muss den Leuten ihre Sünde vorgehalten werden, und dann kann ihnen Vergebung angeboten werden. Stattdessen finden wir ganz andere Wege, auf denen Sünde (nicht) zum Thema wurde.

1. In vielen Fällen sprach Jesus überhaupt nicht über Sünde

Uns wird von einigen Leuten berichtet, die in der Gegenwart Jesu von ihrer Sünde “überführt” wurden und sich radikal veränderten, ohne dass Jesus auch nur ein Wort darüber verloren hätte.

  • Lukas 5,1-11: Petrus erkannte seine Sünde, als Jesus ihm den größten Fischzug seines Lebens schenkte.

  • Lukas 22,61-62: Petrus weinte “bitterlich” über seine Verleugnung, nachdem Jesus ihn nur anschaute. Soweit wir wissen, wurde dieser Vorfall zwischen den beiden nie erörtert. Stattdessen schenkte Jesus ihm einen weiteren großen Fischfang und half ihm, die Liebe in seinem Herzen wiederzuentdecken.

  • Lukas 19,1-10: Jesus sprach zu Zachäus kein Wort über Ausbeutung und Betrug, sondern kehrte bei ihm ein und schenkte ihm Zuwendung. Als Folge davon gestand Zachäus ein, was er immer schon gewusst, aber sonst nie eingestanden hatte, nämlich die Ungerechtigkeit seines Lebens, und veränderte sich vom Ausbeuter zum Wohltäter.

Das Hauptmittel, mit dem Menschen von Sünde überführt wurden, war bedingungslose Liebe.

2. In anderen Fällen sprach Jesus Leuten einfach Vergebung zu

Auch den klassische Ansatz, erst müssten Leute ihre Sünde bekennen, bevor ihnen vergeben werden kann, finden wir bei Jesus nicht als Regel.

  • Markus 2,1-12: Der Gelähmte, der zu Jesus gebracht wurde, um geheilt zu werden, hörte ohne vorheriges Beichtgespräch von Jesus die Worte: “Dir sind deine Sünden vergeben!”

  • Lukas 7,36-50: Eine “sündige” Frau (vermutlich eine Prostituierte) spürte bei Jesus eine Liebe, die sie aus anderen als geschäftlichen Gründen zu ihm hinzog. Sie wusch ihm die Füße und erwiderte seine Liebe, ohne sich vor der versammelten Männerrunde zu schämen. Es wird nichts davon berichtet, dass Jesus mit ihr jemals über ihre Vergangenheit gesprochen hätte. Sie hörte nur: “Dir sind deine Sünden vergeben!”

Das klassische Bußverfahren finden wir eigentlich nur in Lukas 23,39-43. Der Verbrecher, der neben Jesus am Kreuz hing, bekannte sich “sündig”, bat Jesus um Hilfe und erhielt den Zuspruch der “Rettung”. Auch in diesem Fall ging keine Sündenansprache voraus. Bei Jesus “geschah” Sündenerkenntnis, sie wurde nicht produziert.

3. Jesus sprach erst über Sünde, nachdem …

Wo Jesus Leute auf Sünde ansprach, geschah das erst, nachdem er ihnen mit Liebe und Annahme begegnet war.

  • Johannes 4,5-19: Eine Frau, die in ihrer Stadt Außenseiterin war und deshalb am Mittag zum Brunnen ging, um niemandem zu begegnen, war überrascht, als Jesus sie gegen alle sozialen Vorurteile mit Respekt und Achtung behandelte. Erst nachdem er auf diese Weise ihr Vertrauen gewonnen hatte, sprach er sie auf ihre verfahrene Lebenssituation an, und zwar mit dem Ergebnis, dass sie hinterher dafür dankbar war.

  • Johannes 5,1-14: Ein Mann hörte von Jesus die Worte: “Sündige hinfort nicht mehr.” Aber er hörte sie erst, nachdem Jesus ihn von einer 38jährigen Krankheit geheilt hatte. (Offensichtlich wusste dieser Mann von seiner neuen Lebenssituation nur einen ruinösen Gebrauch zu machen. Deshalb die Warnung.)

  • Johannes 8,1-11: Eine Frau, die im Ehebruch ergriffen worden war, hörte die Worte “Sündige hinfort nicht mehr” erst, nachdem Jesus sie vor der sicheren Verurteilung und Hinrichtung bewahrt hatte.

4. Jesus konfrontierte die, die sich für besser hielten als andere

Selbst im Umgang mit religiösen Leuten “übersah” Jesus oft Fehlverhalten und ließ es unkommentiert, bis diese Leute andere zu verurteilen anfingen.

  • Lukas 7,36-50: Im Hause des Simon überging Jesus die unhöfliche und respektlose Behandlung durch seinen Gastgeber solange, bis dieser sich über die Prostituierte empörte, die zu Jesus kam. Erst dann hielt ihm Jesus seine eigenen Versäumnisse vor.

  • Lukas 14,1-11: Erst nachdem die Teilnehmer eines Gastmahls in ihrer religiösen Borniertheit Sabbatheilungen verurteilten, warf Jesus ihnen ihre Prominenzgeilheit vor.

  • Lukas 18,8-14: Jesus erzählte “einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und die anderen verachteten” das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner und machte ihnen deutlich, dass sie ungerechtfertigte Sünder waren.

  • Johannes 8,1-11: In dieser Situation konfrontierte Jesus nicht die im Ehebruch erwischte Frau, sondern die, die sie verurteilen wollten.

Direkte Attacken auf Sünde finden wir bei Jesus nur im Umgang mit religiösen Leuten, nie im Umgang mit “Leuten von draußen”.

Wer Ohren hat zu hören, der höre.

Harald Sommerfeld

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