Ein Zeugnis von Corrie ten Boom
In einer Kirche sah ich ihn. Den kahlköpfigen schweren Mann in grauen Mantel, einen zerdrückten, brauen Filzhut in den unruhigen Händen. Die Leute drängten aus dem Kellerraum, in dem ich gerade gesprochen hatte. Ich hatte über das Thema Vergebung zu den Menschen gesprochen. Häufig benutzte ich Bilder um bestimmte Wahrheiten besser zu erklären. Ich hatte den Leuten gesagt, Sündenvergebung bedeute, dass die Sünde ins Meer geworfen würde, und zwar dort wo es am tiefsten sei. "Wenn wir unsre Sünden bekennen" sagte ich, "dann wirft sie Gott in die Tiefe des Meeres und zwar endgültig. Und wenn ich auch in der Bibel keinen Anhaltspunkt dafür finde, glaube ich doch, dass Gott eine Boje hinsetzt, auf der steht,: "Fischen verboten". Kein Lächeln antwortete mir. Ich blickte nur in ernste Gesichter. 1947 wurde in Deutschland nie nach einer Predigt eine Frage gestellt. Still standen die Leute auf, still hüllten sie sich in Mäntel und verließen den Raum.
Dann sah ich ihn, wie er sich gegen den Strom der anderen durcharbeitete. Man sah den Mantel und den braunen Hut, und im nächsten Augenblick eine blaue Uniform und ein Käppi mit Totenkopf und den gekreuzten Knochen. Diesen Mann kannte ich. Da stand ich wieder in dem großen Raum mit dem schmerzend hellen Licht. Die Scham, nackt an diesem Mann vorbeigehen zu müssen. Ich sah die gebrechliche Gestalt meine Schwester vor mir, die Rippen zeichneten sich scharf ab; die Haut wie Pergament. Betsie, wie bist du so dünn geworden. Das war Ravensbrück, und der Mann war einer der grausamsten Wärter dort im Lager gewesen.
Nun stand er vor mir mit ausgestreckter Hand. "Eine gute Botschaft, Fräulein!" sagte er. "Wie gut ist es doch, dass wie sie sagen, alle unsere Sünden auf dem Grund des Meeres liegen!" Ich konnte ihn nicht anschauen. Er würde sich an mich nicht mehr erinnern können, natürlich nicht. Aber ich erinnerte mich an ihn und an die Lederpeitsche, die in seinem Gürtel steckte. Ich stand vor meinem Peiniger. Mein Blut erfror.
"Sie erwähnten Ravensbrück in ihrer Predigt", sagte er. "Ich war Wärter dort. Aber das ist vorbei", fuhr er fort. "Ich bin Christ geworden. Ich weiß, dass Gott mir alle Grausamkeiten, die ich dort getan habe, vergeben hat. Aber ich möchte es auch noch aus Ihrem Mund hören. Fräulein" – wieder streckte er mir seine Hand entgegen - "können sie mir vergeben?"
Da stand ich nun - ich, der Sünden immer wieder vergeben wurden - und konnte es nicht! Betsie war dort gestorben - konnte es ihren langsamen, schrecklichen Tod ausradieren, einfach mit dieser Bitte?
Es können nur ein paar Sekunden gewesen sein, dass er dastand mit seiner ausgestreckten Hand, aber für mich waren es Stunden, denn ich musste mit der schwierigsten Sache fertig werden, mit der ich es je zu tun hatte. Ich wusste das. Die Botschaft der Vergebung hat eine entscheidende Voraussetzung: Dass wir denen vergeben, die an uns schuldig geworden sind. "Wenn ihr den Menschen ihre Übertretungen nicht vergebt" sagst Jesus, "wird auch der Vater im Himmel euch eure Übertretungen nicht vergeben."
Ich kannte diese Worte nicht nur als Gebot Gottes, sondern auch als eine tagtägliche Erfahrung. Seit Kriegsende betrieb ich in Holland ein Heim für Opfer der Nazibrutalität. Diejenigen, die ihren früheren Feinden vergeben konnten, waren auch in der Lage, in die Welt außerhalb des Heimes zurückzukehren und ihr Leben wieder aufzubauen, egal, welche körperlichen Narben sie trugen. Diejenigen, die ihrer Bitterkeit Raum gaben, blieben Invaliden. Es war so einfach und doch so erschreckend.
Und da stand ich da mit meinem kalten Herzen. Aber Vergebung ist ein Akt des Willens, und der Wille kann ohne Rücksicht auf die Temperatur des Herzens handeln.
"Jesus hilf mir", betete ich leise. "Ich kann meine Hand heben. Soviel kann ich tun. Das Gefühl musst du dazu geben."
Und so legte ich mit einer hölzernen mechanischen Handbewegung meine Hand in die Hand, die sich mit entgegenstreckte. Und als ich es tat, geschah etwas Unglaubliches. Der Strom begann in meiner Schulter, eilte meinen Arm entlang und sprang über in unsere beiden Hände. Und dann schien diese heilende Wärme mein ganzes Sein zu durchfluten, bis mir Tränen in den Augen standen.
"Ich vergebe dir Bruder!", sagte ich weinend. "Von ganzem Herzen!"
Ein langer Augenblick folgte, in dem wir beide die Hand des anderen umschlossen, der frühere Wärter und die frühere Gefangene. Ich hatte Gottes Liebe noch nie so intensiv erlebt wie damals.
(aus: Mit Gott durch dick und dünn, Brockhaus)
Donnerstag, 10. Dezember 2009
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2 Kommentare:
woow - das haut mich um...
Ja Vergebung und vergeben können ist so ein wunderbares Geschenk.
Ich bin so froh und Dankbar das Gott viel Gnade hat und doch so herausfordernt ist, wenn es darum geht denen zu vergeben die uns am meisten weh tuen. Vater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tun und ich vergebe ihnen. Ob sie mich oder dich jemals um vergebung bitten weden, das weiß ich nicht und ändert ja auch nichts daran, das ich sie liebe, weil du mich zuerst geliebt hast.
Danke Jesus.
Michael
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