Montag, 9. März 2009

Soziale Gerechtigkeit

Hiob und soziale Gerechtigkeit

Storch schreibt heute über soziale Gerechtigkeit. Ein wichtiges Thema, auch wenn sich das noch nicht in allen christlichen Kreisen herumgesprochen hat. In diesem Jahr hat die Evangelische Allianz in ihrem Gebetswochenprogramm neben “herkömmlichen” Gebetsanliegen auch “Millenniumsziele” der Vereinten Nationen aufgenommen:

(1) Beseitigung von extremer Armut und Hunger
(2) Grundschulausbildung für alle
(3) Gleichberechtigung und Förderung von Frauen
(4) Senkung der Kindersterblichkeit
(5) Gesundheit der Mütter
(6) Erfolg im Kampf gegen Malaria, AIDS und andere schwere Krankheiten
(7) Einsatz für die Umwelt
(8) Weltweite Partnerschaft für Entwicklung

Mit der Micha-Initiative (nach Micha 6,8) hat die Weltweite Evangelischen Allianz hierzulande leider nicht nur Zustimmung ausgelöst. Einige fromme Gemüter fanden alsbald in sich die Besorgnis vor, jetzt würden auch die Evangelikalen auf dergleichen “liberale” Züge aufspringen. Solche Reaktionen zeigen: Deutschland ist noch nicht “voll Erkenntnis des Herrn wie Wasser das Meer bedeckt” (Jesaja 11,9) - denn diese Erkenntnis besteht unter anderem darin, “dem Elenden und Armen zum Recht zu verhelfen” (Jeremia 22,16).

So mag es nützlich sein, einige weitere Blicke in das Buch Hiob zu werfen. Wir finden in ihm eine “ganzheitliche” Sicht, die uns helfen kann.

Der Verlust des Schalom

Der “normale”, von Gott gewollte Zustand eines Menschen ist “Schalom” (Friede). Schalom bedeutet umfassendes Wohlergehen, Freiheit von jeder Beeinträchtigung. “Ungerecht” ist deshalb jeder Zustand, der einem Menschen diesen Schalom in einem Bereich seines Lebens raubt oder vorenthält.

Hiob erlebte (in den ersten Kapiteln) eine Zerstörung dieses Schalom in jedem Bereich seines Lebens. Zuerst - lange vor der eigentlichen Katastrophe verlor er den Schalom in seinen Gedanken (Hiob 3,25; vgl Hiob 1,5; im Englischen treffend als “peace of mind” bezeichnet). Durch Furcht ging es Hiob nicht gut, bevor es ihm schlecht ging. Schalom schließt seelisches Wohlergehen ein.

Als nächstes verlor Hiob den sozialen Schalom. Nachbarvölker wie die “Sabäer” (Hiob 1,14-15) und die “Chaldäer” (Hiob 1,17), mit denen er lange in Frieden gelebt hatte, fielen über seine Herden her und raubten sie. Außerdem wurde der Schalom mit der Umwelt zerstört. Die Elemente (”Feuer Gottes” in Hiob 1,16; zerstörerische Winde in Hiob 1,18-19) wandten sich gegen ihn. Die Folge war der Verlust des materiellen Schalom. Sein Besitz wurde ihm genommen. Hiob wurde arm.

Gleichzeitig verlor er den familiären Schalom. Seine Kinder kamen um (Hiob 1,18-19). Die Beziehung zu seiner Frau war zerrüttet (Hiob 2,9-10). Satan tastete seine körperlichen Schalom an und schlug ihn mit einer schlimmen Krankheit (Hiob 2,7).

Die Zerstörung des gemeindlichen Schalom kam hinzu, als seine besten (Glaubens-)Freunde begannen, ihn religiös zu verurteilen und zu bearbeiten. Und schließlich erlitt er den Verlust des Schalom mit Gott, als sein Vertrauen in Gott erschüttert wurde und er sich von ihm ungerecht behandelt und verstoßen fühlte.

In jedem dieser Bereiche ist “Schalom” der Zustand, der dem Reich Gottes entspricht. Es ist biblisch nicht legitim, einen dieser Bereiche auf Kosten anderer zu “monopolisieren”. Wer sich nur für den “Frieden mit Gott” oder nur für “Frieden mit der Schöpfung” engagiert, verkürzt die biblische Sicht.

Viele Faktoren

Bei Hiob können wir erkennen, wie viele unterschiedliche Faktoren diesen “ungerechten” Zustand hervorgebracht haben. Beteiligt sind “übernatürliche” Personen und Kräfte. Gott selber ist in der Geschichte involviert (ohne dass ich hier auf Fragen eingehen möchte, die an anderer Stelle gerade diskutiert werden). Eindeutig wird Satan als Verursacher von “Ungerechtigkeit” identifiziert. Aber es gibt weitere Faktoren:

(1) Soziale Faktoren. Wenn Historiker oder Soziologen genügend Informationen bekämen, könnten sie möglicherweise erklären, aufgrund welcher sozialer Bedingungen gerade in dieser Zeit nomadische Raubzüge zunahmen.
(2) Umweltfaktoren. Das Auftreten von Gewittern und Orkanen hat auch meteorologische Ursachen.
(3) Gesundheitliche Faktoren. Wahrscheinlich würde die heutige Medizin bei Hiob Viren oder ähnliche Krankheitserreger feststellen.
(4) Mentale Faktoren: Hiobs Furcht beeinträchtigte sein Leben schon vor der Fremdeinwirkung.
(5) Theologische Faktoren. Die Weltsicht seiner Freunde führte dazu, dass sie ihn ungerecht behandelten.
(6) Der Faktor Sünde. Die raubenden Banden (die Imperialisten der damaligen Welt), die eigenen Kinder (Hiob 1,5 ?), die Freunde (Hiob 42,7-8), und letztlich auch er selbst (Hiob 42,6) hatten jeweils Schuldanteile an der Gesamtsituation.

Deshalb ist es in Bezug auf Situationen von “Ungerechtigkeit” auf unserer Welt wichtig, nicht monokausal zu denken. Es ist nicht allein die “Bekehrung” oder der “Glaube”, der alles zurecht bringt. (”Komm zu Jesus, und er löst alle deine Probleme.”) Aber es ist auch nicht allein die gesellschaftliche Veränderung, die alles zum Guten führt. (Gerechtere soziale Verhältnisse und Bereitschaft zum Teilen würden viele Leute nicht aus der Armutsspirale herausholen, weil sie in ihrem Denken “arm” sind.)

Ganzheitlicher Einsatz für Gerechtigkeit

Einsatz für Gerechtigkeit rechnet mit allen diesen Faktoren und begegnet ihnen auf allen Ebenen.

(1) Gebet. Letztlich wendet Gott das Schicksal von Menschen (Hiob 42,10).
(2) Geistlicher Kampf. Dämonische Kräfte sind nicht nur in Menschen, sondern auch in Strukturen und Verhältnissen am Werk.
(3) Individuelle praktische Hilfe. Medizin, Beratung, rechtlicher Schutz, materielle Hilfe, Ausbildung und vieles mehr.
(4) Individuelle übernatürliche Hilfe. Menschen brauchen Heilung, Befreiung, Versöhnung mit Gott und untereinander, übernatürliche Führung, Versorgung und Situationsveränderung. Ihr Denken braucht Erneuerung, damit sie aus ihrer “Opferrolle” heraustreten können oder Zuversicht bekommen können, dass mit Gott etwas geht, wo scheinbar gar nichts geht.
(5) Liebe und Solidarität. Zuwendung und gemeinsames Bewältigen, wo im Moment die äußere Veränderung (noch) nicht möglich ist.
(6) Einsatz für gerechte Verhältnisse und Strukturen. Dazu gehören politisches Engagement, Bürgerinitiativen, wissenschaftliche Forschung (z.B. Medikamente gegen AIDS, umweltverträgliche Technologien), Fair Trade und vieles mehr.

Die “ganze Gemeinde”

Wir alle brauchen ein Bewusstsein für die umfassende Verheißung des Reiches Gottes. Keiner von uns sollte sich das Vorrecht entgehen lassen, ein Agent von Gottes Gerechtigkeit und Schalom auf dieser Erde zu sein. Christen und Gemeinden, die diese ganzheitliche Sicht nicht haben, berauben andere und sich selbst. (Man kann das Gebot, seinen Nächsten zu lieben “wie sich selbst” auch so interpretieren: wer seinen Nächsten liebt, liebt sich selbst. Auf Dauer gibt es keinen anderen Weg, glücklich zu werden, als sich für den Schalom des Nächsten zu engagieren.)

Andererseits kann und soll nicht jeder alles machen. Deshalb gehört jenes Totschlagargument begraben, mit dem Christen anderen, die etwas tun, vorwerfen, dass sie nicht auch etwas ganz anderes tun. Christen, die ihre Stärke in der Evangelisation haben, werfen sozial engagierten Christen gern vor, sich nicht um “die Seele” zu kümmern. Christen, die sich sozial engagieren, werfen evangelistisch engagierten Christen gern vor, sich nur um “die Seele” zu kümmern. Warum begreifen sich beide nicht gegenseitig als Teil eines Ganzen? Warum lernen sie nicht voneinander? Warum inspirieren sie sich nicht gegenseitig? Warum segnen sie sich nicht gegenseitig?

Nachtrag

Ich begegne immer wieder dem Verdacht, Calling All Nations (am 15. Juli im Berliner Olympiastadion) sei ein weiteres christliches Wohlfühl- und Selbstbefriedigungs-Großereignis. Deshalb sei kurz folgendes erwähnt. Noel Richards (der Initiator) hat kürzlich auf einem Trägerkreistreffen noch einmal sehr deutlich gemacht, dass Anbetung ohne Einsatz für die Armen und soziale Gerechtigkeit nicht geht. Wenn das Ereignis im Stadion nicht dahin führt, dass Christen diesen Teil ihrer Berufung verstärkt erkennen und praktizieren, wäre sein Anliegen nicht wirklich in Erfüllung gegangen. Klärt das einige Missverständnisse?



Von Haso

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